Generalanwältin Kokott: Es ist mit Unionsgrundrechten unvereinbar, in Versicherungsverträgen das Geschlecht des Versicherten als Risikofaktor zu berücksichtigen
Zahlreiche Versicherungsverträge, insbesondere Krankenversicherungsverträge, sahen in der Vergangenheit eine unterschiedliche Risikobehandlung von Männern und Frauen vor. Seit Ende 2004 verbietet die Richtlinie 2004/113/EG jedoch die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Hierunter fallen auch Versicherungsverträge bei denen im Grundsatz die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung von Versicherungsprämien und -leistungen verboten ist. Allerdings gestattet es eine in der Richtlinie vorgesehene Ausnahme den Mitgliedstaaten, geschlechtsspezifische Unterschiede bei Versicherungsprämien und -leistungen zuzulassen, sofern das Geschlecht ein bestimmender Risikofaktor ist und dies durch relevante und genaue versicherungsmathematische und statistische Daten untermauert werden kann.
Diese Ausnahmebestimmung steht aktuell auf dem Prüfstand des EuGH. Entsprechend den Verfahrensbestimmungen desselben wird der EuGH bei der Entscheidungsfindung durch sog. Generalanwälte unterstützt, die den Sachverhalt umfassend unter rechtlichen Gesichtspunkten prüfen und eine Stellungnahme bzw. Empfehlung an den Gerichtshof, den sog. Schlussantrag, abgeben. Die nunmehr vorliegenden Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott betreffen eine belgischen Umsetzungsbestimmung zur Richtlinie 2004/113/EG, wonach „eine proportionale unmittelbare Unterscheidung aufgrund des Geschlechts bei der Festlegung der Versicherungsprämien und -leistungen gemacht werden [darf], wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist".
Die Kläger des Ausgangsverfahrens erachten diese Bestimmung als rechtswidrig und suchen auf nationaler Ebene danach, die Regelung für Nichtig erklären zu lassen. Das mit dem Sachverhalt befasste belgische Gericht hat den Sachverhalt nunmehr dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.
Die umfassende Stellungnahme Kokotts berechtigt zur Annahme erheblicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der belgischen Umsetzungsbestimmungen. Sie führt - unter Berücksichtigung der Wichtigkeit einer diskriminierungslosen Geschlechterrolle - aus, dass lediglich eindeutig nachweisbare biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern Ungleichbehandlungen rechtfertigen können. Soweit sich eine Ungleichbehandlung jedoch allenfalls statistisch mit dem Geschlecht in Verbindung bringen ließe, reiche dies nicht aus. Denn hier spielten zahlreiche andere Faktoren eine wichtige Rolle für die Bewertung von Versicherungsrisiken. So sei vor allem die Lebenserwartung von Versicherten stark von wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten jedes Einzelnen beeinflusst, wie z.B. Art und Umfang der ausgeübten Berufstätigkeit, familiäres und soziales Umfeld, Ernährungsgewohnheiten, Konsum von Genussmitteln und/oder Drogen, Freizeitaktivitäten oder sportliche Betätigung. Die Generalanwältin ist daher der Auffassung, dass es rechtlich nicht angebracht sei, Versicherungsrisiken am Geschlecht einer Person festzumachen.
Dr. Robert Kazemi