LSG NRW: Keine starre Anwendung der vom BSG geschaffenen starren sechs monatigen Nachbesetzungsfrist für offen gewordene Arztstellen im MVZ
Mit Urteil vom 19.10.2011 (B 6 KA 23/11 R) hatte der für das Kassenarztrecht zuständige 6. Senat am Bundessozialgericht entschieden, dass ein halber oder ganzer Angestelltensitz in einem MVZ erst dann entzogen werden kann, wenn er sechs Monate lang nicht nachbesetzt wurde. Bezieht sich die Nichtbesetzung lediglich auf eine Viertelstelle, kommt eine Entziehung eines Teils der Zulassung dagegen nicht in Frage. Seitdem wird von den KVen zuweilen eine starre 6-Monats-Frist zur Nachbesetzung als zwingend angesehen. Wird diese nicht eingehalten, droht der vollständige Entzug des Sitzes. So auch in dem nunmehr vom LSG NRW zu entscheidenden Fall. Das LSG ist der Anwendungspraxis der KVen im Interesse der Ärzteschaft nunmehr entgegengetreten und hat die Anwendbarkeit der 6-Monats-Frist relativiert (LSG NRW, Beschluss vom 27.03.2013, L 11 KA 96/12 B ER).
Der Fall:
In dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren klage ein zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenes Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). Zum 30.06.2011 war hier der im Fachbereich Neurologie des MVZ angestellte Facharzt für Nervenheilkunde Dr. C1 ausgeschieden. Erst am 19.01.2012 stellte das MVZ einen Antrag auf Genehmigung der Beschäftigung eines Nachfolgers beim Zulassungsausschuss für Ärzte. Dieser hat den Antrag in der Sitzung am 07.03.2012 mit der Begründung abgelehnt., der Arztsitz sei über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten unbesetzt gewesen, weswegen eine Nachbesetzung nicht mehr in Frage komme.
Die Entscheidung:
Das LSG stuft die Praxis des Zulassungsausschusses einstweilen als rechtswidrig ein.
„Der Anordnungsanspruch folgt aus § 95 Abs. 2 Satz 8 und Satz 5 SGB V. [...] Eine Nachbesetzung gemäß § 103 Abs. 4a Satz 5 SGB V darf, so das BSG, grundsätzlich nicht beliebig hinausgezögert werden. Ein längeres Offenhalten einer Arztstelle durch das MVZ liefe - abgesehen von der Hintanstellung der Interessen außenstehender Bewerber - nicht nur dem Ziel des Abbaus von Überversorgung im gesperrten Planungsbereich zuwider, sondern wäre auch aus der Sicht sachgerechter Bedarfsplanung sowie realitätsnaher Berechnung des Versorgungsgrades schwerlich tolerabel. [...] Die 6-Monats-Frist war nicht gewahrt. [...]
Indessen:
Die 6-Monats-Frist hat das BSG erstmals in der Entscheidung vom 19.10.2011 entwickelt. Der Senat hatte in dem zugrundeliegenden Urteil vom 27.10.2010 - L 11 KA 31/09 - noch ausdrücklich festgestellt, dass dem Gesetz weder eine zeitliche Befristung für die Nachbesetzung einer MVZ-Arztstelle zu entnehmen sei noch Analogiebildungen zulässig seien. Das BSG setzt sich mit diesen Erwägungen im Urteil vom 19.10.2011 nicht auseinander, sondern positioniert sich so, dass allein aus Gründen einer sachgerechten Bedarfsplanung eine Arztstelle, welche länger als sechs Monate vakant ist, entfalle (so Rothfuß/von Prittwitz, ZGMR 1/2012, 51). Ungeachtet der aus Sicht des Senats zweifelhaften rechtlichen Ableitung der 6-Monats-Frist kann bei dieser Sachlage kein rechtskundiger Verfahrensbevollmächtigter und schon gar nicht eine juristisch ungebildete Naturalperson "erahnen", dass das BSG diese Frist kreieren wird. Demzufolge greift die Frist allenfalls für Fälle nach Bekanntwerden der Entscheidung des BSG. [...]
Die am 19.10.2011 geschaffene 6-Monats-Frist kann ihr auch aus Rechtsgründen nicht entgegengehalten werden. Das Urteil des BSG hat weder Bindungswirkung i.S.d. § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) noch erwächst es wie Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unter den Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BVerfGG in Gesetzeskraft. Die 6-Monats-Frist berührt die Rechte der Antragstellerin aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt. Hierzu rechnen die Nachbesetzungsregelungen des SGB V. Nimmt man mit dem BSG an, dass die 6-Monats-Frist aus Gründen einer sachgerechten Bedarfsplanung geboten ist, handelt es sich der Sache nach um richterliche Rechtsfortbildung. Wird weiter angenommen, dass diese vorliegend zulässig ist, ergeben sich aus Art. 14 Abs. 1 GG Restriktionen. Sofern legislative Grundrechtseinschränkungen statthaft sind, müssen diese ihrerseits allgemeinen Anforderungen genügen. Diese Schranken-Schranke konkretisiert sich z.B. im Bestimmtheitsgrundsatz und im Vertrauensschutzprinzip (vgl. Sachs, in: Sachs, GG, 6. Auflage, 2011, vor Art. 1 Rdn. 134, 135). Letzteres greift. Die normativen Grundlagen der Nachfolgebesetzung sehen keine Frist vor. Zudem hat der Senat diese Erkenntnis mit Urteil vom 27.10.2010 - L 11 KA 31/09 - ausdrücklich bestätigt. Das BSG ist dem nicht entgegengetreten, hat vielmehr für die Konstruktion der 6-Monats-Frist einen sich vom Wortlaut lösenden Ansatz gewählt. Unter Vertrauensschutzgesichtspunkten erweist sich dies im Einzelfall - wie hier - als problematisch. Folgt man dem BSG, wird das Eigentumsrecht des MVZ infolge nicht unmittelbar aus dem Gesetz ableitbarer Erwägungen eingeschränkt. Dann aber greift die Schranken-Schranke mit der Folge, dass dem Vertrauensschutz besonderes Gewicht beizumessen ist. Dies wiederum führt dazu, dass der Antragstellerin die 6-Monats-Frist im Dezember 2011 nicht entgegengehalten werden kann. Dies könnte darauf hindeuten, dass jedenfalls vorliegend eine Frist für den Nachbesetzungsantrag erst ab Bekanntwerden der Entscheidung des BSG vom 19.10.2011 läuft, mithin im Januar 2012 ansetzt und daher nicht verstrichen war. Letztlich kann dies offen bleiben, denn selbst wenn die vom BSG kreierte 6-Monats-Frist zugrunde gelegt wird, ist der erst am 16.03.2012 gestellte Antrag auf Verlängerung der Nachbesetzungsfrist rechtswirksam.
Zufolge des BSG ist dem Zulassungsausschuss die Befugnis einzuräumen, die Frist in besonderen Fällen des Misslingens rechtzeitiger Nachbesetzbarkeit trotz erkennbar ernstlichen Bemühens nochmals um höchstens weitere sechs Monate zu verlängern. Die Voraussetzung des "Misslingens rechtzeitiger Nachbesetzbarkeit trotz erkennbar ernstlichen Bemühens" ist erfüllt. Schon das SG hat darauf hingewiesen, die Antragstellerin habe dargelegt und durch Vorlage diverser Dokumente und eidesstattlicher Versicherungen hinreichend glaubhaft gemacht, sich fortlaufend und ernsthaft um eine Nachbesetzung bemüht zu haben. Das trifft zu. Der Antragstellerin hat hierzu im Schriftsatz vom 19.03.2012 gegenüber dem Zulassungsausschuss vorgetragen [...]
Als Rechtsfolge resultiert hieraus, dass dem Zulassungsausschuss "die Befugnis einzuräumen" ist, die Frist für "höchstens weitere sechs Monate zu verlängern." Der Antrag auf Fristverlängerung wurde außerhalb der 6-Monats-Frist am 16.03.2012 (Eingang bei der Bezirksstelle am 19.03.2012) gestellt. Der Zulassungsausschuss und ihm folgend der Antragsgegner haben eine Fristverlängerung verweigert. Problematisch erweist sich, dass angesichts der Formulierung des BSG unklar bleibt, wie die Voraussetzung "besondere Fällen des Misslingens rechtzeitiger Nachbesetzbarkeit" und die Rechtsfolge, nämlich die "Frist nochmals um höchstens weitere sechs Monate zu verlängern", miteinander verknüpft sind. Das BSG besetzt die Verknüpfungsebene mit dem Substantiv "Befugnis". Offen bleibt, ob diese Befugnis eine Zuständigkeitszuweisung oder Ermessensermächtigung enthält. Im erstgenannten Fall muss die Frist verlängert werden, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind. Im zweiten Fall bedingt die Fristverlängerung eine pflichtgemäße Ermessensausübung. Die Rechtsfrage bedarf keiner Entscheidung. Wird eine Zuständigkeitszuweisung angenommen, hätten die Zulassungsgremien die Frist verlängern müssen, da die "Tatbestands"voraussetzungen - wie aufgezeigt - erfüllt sind. Wird eine Ermessenszuweisung angenommen, hätten die Gremien deswegen fehlerhaft gehandelt, weil sie die "Tatbestands"voraussetzungen unzutreffend verneint haben und deswegen den Bereich der Ermessensübung nicht erreicht haben (Ermessensausfall). Im Übrigen bestehen keine Anhaltspunkte, die die Gremien zu einer Verweigerung der Fristverlängerung hätten berechtigen können (Ermessensreduzierung auf Null).
Bewertung:
Die Entscheidung des LSG NRW provoziert und setzt sich in offene Konfrontation mit der Entscheidung des höchsten deutschen Sozialgerichts. Die Richter des LSG NRW zeigen hiermit nicht nur richterlicher Unabhängigkeit, sondern machen dem deutschen Rechtssystem alle Ehre, indem sie den Sachverhalt nicht nach den „Vorgaben" des Obergerichts, sondern, wie es die richterliche Unabhängigkeit vorsieht, aufgrund eigener, nachvollziehbarer Rechtsanwendung entscheiden. Dabei ist die Kritik an der vom BSG kreierten 6-Monats-Frist nicht zu übersehen. Allein die Einordnung der geschaffenen Frist als „problematisch" und die dezidierte Auseinandersetzung mit Art. 14 GG machen deutlich, dass sich das LSG NRW mit der Entscheidung des BSG (diese war auf eine Revision gegen ein Urteil des LSG ergangen) nicht abgefunden hat. Im Ergebnis erscheint die hierfür gefundene Begründung (auch mit Blick auf den Einzelfall) nachvollziehbar und im Interesse aller Medizinischer Versorgungszentren begrüßenswert. Das LSG verkennt in diesem Zusammenhang zu Recht nicht, dass die Nachbesetzung von Arztstellen - nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Sektor - nicht leichter, sondern immer schwieriger wird. Das ausufernde Honorararztwesen ist dafür nur ein Indiz. Wären MVZ - wie es das BSG fordert - in der Tat darauf angewiesen, eine Arztstelle immer und ohne Rücksicht auf die Arbeitsmarktsituation umgehend innerhalb einer starren Frist nachzusetzen, könnte dies, dies zeigt der hier entschiedene Fall eindrucksvoll, zu untragbaren Ergebnissen führen. Es ist daher mehr als zu begrüßen, dass das LSG hier nicht allein auf den Fristablauf, sondern auf die innerhalb der First erfolgenden Bemühungen zur Suche eines geeigneten Nachfolgers abstellt. Sind diese ernsthaft erfolgt, kann allein der Ablauf der 6-Monats-Frist nicht zu einem Wegfall der Arztstelle führen.
Dr. Robert Kazemi