OLG Stuttgart: Veröffentlichung von E-Mails aus Mailinglisten und das allgemeine Persönlichkeitsrecht
Stellt es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung dar, wenn Stellungnahmen in einem geschlossenen E-Mail-Verteiler, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? Das OLG Stuttgart sagt „JA" (OLG Stuttgart, Urteil v. 10.11.2010, Az. 4 U 96/10), ABER....
Der Fall:
Die Parteien streiten über Unterlassungsansprüche des Klägers wegen einer E-Mail, die der Beklagte auf seinen Internetseiten veröffentlicht hat.
Die Parteien stehen im Meinungsstreit über die Frage der Notwendigkeit von Impfungen. Der Kläger beteiligt sich an der Diskussion um die Aufklärung über Risiken von Impfungen sowie die Aufrechterhaltung einer eigenverantwortlichen Impfentscheidung. Der Beklagte hält diesen Standpunkt des Klägers für unverantwortlich, da der Tod vieler Menschen auf unterbliebene Impfungen zurückzuführen sei. Er betreibt Webseiten, auf denen er eine E-Mail des Kläger wie folgt veröffentlicht hat:
„Impfkritiker was man über sie wissen sollte, wenn man überleben will
Diese Site ist gewidmet denen, deren Leben durch Impfgegner zerstört wurde. Sie ist gewidmet den Eltern und den Kindern - und vor allem jenen, die jetzt sterben, sterben an einer Krankheit, die durch eine Impfung hätte verhindert werden können.
[...] Und nun zitiere ich ihn, einen der größten lebenden deutschen Denken: XY, den Herausgeber des X
(Anmerkung des Senats: Es folgt ein Schreiben über Masernpartys, die weiter angegriffenen Passagen stehen in einem deutlich räumlichen Abstand!)
XY in der genannten Gruppe von Ärzten, über H
From: xxxx
To: xxxx xxxxx@y.de
Sent: Sunday, December 18,2005 10:50 M
Subject: AW:AW: [lndividuelle_lmpfentscheidung] Infektionen und Krebs
[Wortlaut der E-Mail]"
Bei der veröffentlichten E-Mail handelt es sich um eine Mail, die der Kläger 2005 an eine sogenannte geschlossene Mailingliste versandt hatte, zu der nur autorisierte Personen Zugang haben. Der Kläger kennt zwar einige Teilnehmer, mit denen er im Kontakt steht, ihm sind aber nicht alle Mitglieder persönlich bekannt.
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte widerrechtlich in die angeblich vertrauliche Mailingliste eingedrungen ist und ob er berechtigt ist, die Mail des Klägers zu veröffentlichen. Der Beklagte trägt vor, er habe die Mail von einem Mitglied der Liste erhalten. Der Zugang zur Mailingliste sei über einen Link auf der Webseite eines Dritten möglich gewesen. Der Kläger steht insoweit auf dem Standpunkt, der Beklagte habe sein allgemeines Persönlichkeitsrecht und auch seine Urheberrechte verletzt.
Das Landgericht hat dem Kläger Recht gegeben, das OLG beurteilt den Sachverhalt wesentlich differenzierter.
Die Entscheidung:
Die unerlaubte Veröffentlichung einer für einen eingeschränkten überschaubaren Personenkreis bestimmten E-Mail ist - nach Ansicht des OLG - wie die Veröffentlichung eines Briefes als eine Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts anzusehen.
Die unbefugte Fixierung oder Veröffentlichung von vertraulichen Aufzeichnungen - dazu gehört auch eine E-Mail, die nur an einen bestimmten abgegrenzten Personenkreis übersandt wird - tangiert das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, denn der Einzelne hat ein grundsätzliches Recht darauf, nicht den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein. In welchem Umfang der Einzelne berechtigterweise davon ausgehen darf, den Blicken der Öffentlichkeit nicht ausgesetzt zu sein, lässt sich aber nur unter Berücksichtigung der konkreten Situation und damit unter Einbeziehung des eigenen Verhaltens des Betroffenen beurteilen.
Der Schutz der Privatsphäre vor Öffentlicher Kenntnisnahme kann etwa dort entfallen oder zumindest im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung zurücktreten, wo sich der Betroffene selbst damit einverstanden erklärt hat, dass bestimmte, gewöhnlich als privat geltende Angelegenheiten öffentlich gemacht werden oder wo er selbst an die Öffentlichkeit getreten ist.
Geschäfts- und Privatbriefe sind weder gegen (weitere) Veröffentlichungen (BVerfG NJW 1991, 2339; BGHZ 31, 308 [313]) noch gar absolut gegen Kenntnisnahme geschützt, sofern der Wille des Verfassers oder Berechtigten zur Geheimhaltung nicht deutlich erkennbar ist.
Die Äußerungen des Klägers können insoweit nicht seiner Privatsphäre zugeordnet werden, denn die Teilnahme an der Yahoo-Nachrichtengruppe gehört nicht mehr hierzu, nachdem dem Kläger unstreitig nicht alle Teilnehmer persönlich bekannt waren. Die Privatsphäre umfasst den Bereich, zu dem andere nur Zugang haben, soweit es ihnen gestattet wird.
Die Veröffentlichung der E-Mail des Klägers auf der Homepage des Beklagten ist daher grundsätzlich dazu geeignet, den Kläger in seinem Recht zur Geheimhaltung des Mailinhalts zu verletzen.
Die Tatsache, dass die Parteien einen Meinungskampf über die Notwendigkeit von Impfungen führen und der Kläger hier vielfach in der Öffentlichkeit präsent ist, führt insoweit noch nicht zu einer anderen Bewertung, denn der Kläger hat sich nicht damit einverstanden erklärt, dass gerade die konkrete Mail öffentlich zugänglich gemacht wird. Eine Einwilligung in die globale Veröffentlichung der nur für einen bestimmten Personenkreis geschriebenen E-Mail kann deshalb nicht angenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht weist aber zu Recht darauf hin, dass derjenige keinen Privatsphärenschutz genießt, der seinen privaten Bereich geöffnet hat.
Die Veröffentlichung der Mail ist aber gerechtfertigt, denn die Abwägung der gegenseitigen Interessen geht zu Gunsten des Klägers aus.
Privat- und Sozialsphäre sind nicht absolut geschützt, weil insoweit ein Spannungsverhältnis mit der Außerungs- und Pressefreiheit besteht Eine ungenehmigte Veröffentlichung kann zulässig sein, wenn eine alle Umstände des konkreten Falles berücksichtigende Interessenabwägung ergibt, dass das Informationsinteresse gegenüber den persönlichen Belangen überwiegt. Dabei kann berücksichtigt werden, ob Angelegenheiten erörtert werden, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen, oder nur private Dinge ausgebreitet werden, die lediglich die Neugier befriedigen. Der Meinungsäußerung- und Pressefreiheit gebührt der Vorrang, wenn die (Presse-) Veröffentlichungen ein berechtigtes Ziel verfolgen, das In einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist und mit Informationen und Ideen ein Beitrag zu Fragen des öffentlichen Interesses geliefert wird.
Berührt ein Vorwurf den Bereich der gewerblichen oder politischen Betätigung - also die Sozialsphäre - kommt einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit ein erheblicher Rang zu; wer sich im Wirtschaftsleben oder der Politik aktiv betätigt und am Meinungskampf teilnimmt, muss sich in weitem Umfang der Kritik aussetzen.
Die Parteien stehen in einem (erbittert geführten) Meinungskampf über die Notwendigkeit von Impfungen. Der Kläger setzt sich als freier Journalist sehr kritisch mit der Notwendigkeit von Impfungen auseinander und gibt dazu im Internet einen gegen Impfungen eingestellten xxxxx heraus, er schreibt auch kritische Beiträge zur Notwendigkeit von Impfungen. Der Kläger selbst beschreibt sich auch als totalen Impfgegner. Der dazu gehaltene Vortrag des Beklagten ist vom Kläger nicht bestritten worden, gilt also gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden (er kann deshalb auch verwertet werden, soweit der Vortrag erst im Berufungsverfahren erfolgte). Demgegenüber möchte der Beklagte mit seiner Webseite das seiner Meinung nach mit der Ablehnung von Impfungen verbundene verantwortungslose Handeln der Impfgegner bekämpfen und über die Risiken und Konsequenzen einer Impfgegnerschaft aufklären (fetzten Endes geht es um die Auseinandersetzung mit den Ideen und Thesen eines XY und den "Irrsinn" der sogenannten "Neuen Medizin").
Wer sich - wie die Parteien - in einem Meinungskampf über ein die Bevölkerung unmittelbar interessierendes wichtiges Thema der notwendigen Gesundheitsvorsorge durch Impfungen befindet, muss insoweit auch kritische und ablehnende Äußerungen hinnehmen, solange damit keine Stigmatisierung oder Ausgrenzung des jeweiligen Gegners verbünden ist.
Die wörtliche Wiedergabe der - zudem sehr allgemein gehaltenen - Thesen und Überlegungen des Klägers (inhaltlich geht es um ein Training der Immunabwehr durch häufige Sozialkontakte und eine verbesserte Bewältigbarkeit von Krisensituationen bei einem regen Austausch mit anderen Menschen) führt auch im Gesamtkontext nicht zu einer Stigmatisierung oder Verfälschung des Bildes über den Kläger.
Da sich beide Parteien an der öffentlichen Meinungsbildung zu der sehr wichtigen Thematik der Gesundheitsvorsorge durch Impfungen beteiligen, müssen sie gegenseitig das Risiko einer öffentlichen, scharfen und auch wertenden Kritik tragen.
Bewertung:
Die Entscheidung des OLG ist konsequent und folgerichtig. Sie trägt, wie andere Entscheidungen der vergangenen Monate, zu einer Stärkung der Meinungsfreiheit bei und rückt die Bedeutung des Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit in die richtige Position. Wer sich Wirtschaftsleben bestätigt, setzt sich in erheblichem Umfang der Kritiken seiner Leistungen aus. Zu einer solchen Kritik gehört auch die Namensnennung. Die Öffentlichkeit hat in solchen Fällen ein legitimes Interesse daran zu erfahren, um wen es geht.
Ähnlich der Entscheidung des KG haben sich auch das Landgericht (LG) Münster (Az. 022 O 28/10) und das Landgericht (LG) Düsseldorf (Az. 38 O 20/10) in zwei durch den Unterzeichner auf Beklagtenseite geführten Verfahren positioniert. In beiden Verhandlungen ging es um die Thematik des „Zahnersatzes ohne Zuzahlung" und die kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema unter Namensnennung der mit diesem Werbeslogan auf Kundenfang gehenden Unternehmen.
Eine geschäftsschädigende aber wahrheitsgemäße Behauptung durch Unterrichtung von Dritten über die geschäftlichen Verhältnisse von Mitbewerbern - etwa im Wege der Überlassung von Gerichtsurteilen an diese Mitbewerber - ist zulässig, wenn der Wettbewerber einen hinreichenden Anlass zu der Behauptung besitzt, und sich die Kritik nach Art und Maß im Rahmen des Erforderlichen hält. Wer aktiv im Wirtschaftsleben handelt und sich im Rahmen dieses Handelns der Kritik von Mitbewerbern durch wahrheitsgemäße Angaben ausgesetzt sieht, kann sich ersichtlich jedenfalls nicht auf die wesentlich strengeren Grundsätze berufen, die die Rechtsprechung für den Schutz der Intim- und Privatsphäre entwickelt hat.
Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung muss zudem stets auch das Informationsinteresse der Verbraucher und sonstiger Marktteilnehmer sowie der verfassungsrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit berücksichtigt werden. Insoweit genügt es gerade nicht, den rufschädigenden Effekt einer Berichterstattung unter Namensnennung zu behaupten, da sich diese als gerechtfertigt erweisen kann. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Ausstrahlung der Grundrechte. Der Handelnde kann sich neben Art. 12 GG auch auf Art. 5 Abs. 1 GG berufen, der auch kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung mit wertendem, meinungsbildendem Inhalt schützt. Kritische Äußerungen sind demnach zulässig, wenn sie Verbrauchern oder anderen Marktteilnehmern für ihre Nachfrageentscheidungen nützliche Informationen bieten und den guten Ruf des betroffenen Mitbewerbers nicht stärker beeinträchtigen als zur Information der Marktteilnehmer erforderlich. Entscheidende Kriterien sind demnach die Nützlichkeit der Information aus Abnehmersicht und das Maß der Herabsetzung, die ein „bewegliches System" bilden: Je nützlicher die Information, je sachlicher ihre Präsentation, je geringer das Maß der Herabsetzung, desto eher ist die kritische Äußerung zulässig. Das Vorverhalten des namentlich benannten kann dabei in die Abwägung einfließen und eine großzügigere Beurteilung rechtfertigen (vgl. zur Zulässigkeit von Zitaten aus E-Mails: BVerfG, Beschluss v. 18.02.2010, Az. 1 BvR 2477/08; zu Zulässigkeit der Berichterstattung über mögliche Stasi-Tätigkeit: OLG Hamburg, Urteil v. 20.03.2023, Az. 7 U 95/09)
Dr. Robert Kazemi